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Aus der Rede des Juryvorsitzenden zur Preisverleihung: "Die Wahlbeteiligung fiel vom Rekord mit 114 ppb im letzten Jahre auf 66 ppb. Für die in Arbeitsschutz wie Naturwissenschaften eventuell weniger bewanderten Zuschauer sei gesagt, daß 1 ppb heißt, daß unter einer Milliarde Menschen eine Person ist, die an der Preisfrage teilgenommen hat. Dies erscheint wenig, jedoch sollte man sich vor Augen halten, daß die letale Dosis (LD50) für Plutonium schon bei etwa 300 ppb liegt. Die Auswirkungen einer Wahlbeteiligung in dieser Größenordnung auf die Preisfragenjury wurden glücklicherweise bislang nicht im Feldversuch studiert. Sie dürften ähnlich sein.
Die Kopfrechner unter Ihnen werden näherungsweise ermittelt haben, daß die absolute Teilnehmerzahl bei 433 liegt, also nicht wirklich gering ist. Von Wahlverdrossenheit zu sprechen wäre also verfrüht. Zudem ist 433 immer noch weit größer als die Zahl derer, die allwöchentlich als Bundesligakicker hektargroße Grünflächen umpflügen. Nur um die Bedeutung der Preisfrage in ein angemessenes Licht zu rücken.
Interessant ist ebenfalls die Herkunft der Wählerinnen und Wähler. Wie im letzten Jahr erhielten wir Zuschriften aus drei Kontinenten. Asien war nicht mehr vertreten, dagegen erhielten wir wieder mal Post aus Australien. Der Rest entfiel auf Europa und Nordamerika. Neu im Geschäft waren Belgien und Bulgarien. Die Holländer haben dagegen das frühe WM-Aus wohl ebensowenig verdaut wie die Schweden die schnellen Tore von Prinz Poldi. Die Folge: Totalboykott.
Aussagefähiger als absolute Zahlen sind allerdings die Einsendungen pro Kopf der Bevölkerung. Man möchte meinen, Deutschland gewinne dieses Rennen locker. Irrtum! Auf Platz 1 kommt Österreich mit 4,7, vor Deutschland mit 4,5 und Luxemburg mit 4,2 ppm, also Einsendern pro Million Einwohner – in Österreich herrschte mal Wahlpflicht. Spannend bei den deutschen Einsendungen ist in diesem Zusammenhang auch die Verteilung auf Ost und West. Und siehe da: Der Osten hat die Nase vorn! In den fünf neuen Bundesländern und Berlin (Ost) beteiligten sich 4,442 ppm, in den alten Bundesländern und Berlin (West) dagegen nur 4,437 ppm. Der Unterschied ist zwar erst in der dritten Nachkommastelle erkennbar, beträgt aber immerhin satte 1,2‰.
Ein Vorteil der Preisfragen im Gegensatz zu Bundestagswahlen ist die wirkliche Allgemeinheit der Wahl. Von den zu bedauernden 50 Mitgliedern der Jungen Akademie abgesehen, kann in der Tat jeder Erdenbürger an der Wahl teilnehmen. Es gibt keinerlei Altersbeschränkung. Allerdings geben die Teilnehmer leider nur relativ selten (knapp 15%) ihr Baujahr preis; bemerkenswerterweise Frauen doppelt so oft wie Männer. Soviel zum Thema Eitelkeit. Wir wissen von einer Vierzehnjährigen aus Bayern. Und von einer 72jährigen pensionierten Wiener Allgemeinmedizinerin ohne elektronische Geräte, aber mit Ehrfurcht vor einem Festnetzanschluß. In diesem Alter kann man schon eine „Kleine Weltgeschichte“ schreiben.
Die Altersextreme haben also – soweit bekannt – Frauen gesetzt. Dennoch beteiligten sich dieses Jahr vor allem Männer an der Preisfrage: Nur 49,0% der Beteiligten waren Frauen, dagegen 50,8% Männer. 0,2% sind übrigens „noch nicht entschieden“.
Die Wählerinnen und Wähler setzten ein breites Spektrum an Stilmitteln ein, zeigten zugleich aber deutliche Präferenzen. Über drei Viertel der 405 Einsendungen waren Texte, darunter 119 Erzählungen, 80 Essays und 74 Gedichte, aber auch sechs Kurzgeschichten, vier einfache Antworten („Ich nicht. Sie?“), je drei Theaterstücke, Fragen und Briefe, je zwei Dialoge, Projekte, Drehbücher und Monologe sowie eine Ansprache, ein Film mit Website, ein Hörspiel, ein Interview, eine Trilogie, ein Urteil, eine wissenschaftliche Abhandlung, ein Wochenend-Experiment und eine Morddrohung. Zumeist friedlicher waren die Kunstwerke: sieben Plakate, fünf Skulpturen, drei Readymades, je zwei Boxen und Installationen sowie ein Bauklotzrätsel, je ein Packen Postkarten, Schicksalsringe und Texttafeln, eine Leckersahnepapptorte (mit Kalorien für ungefähr zweimal L’Alpe d’Huez), eine Illustration, ein Kartenständer, ein Plakatentwurf, ein Spiegel, ein T-Shirt und eine Wahlmaschine. Des weiteren erhielten wir 17 Bild-Text- oder Text-Bild-Collagen, 16 Bilder solo, acht Fotografien, sechs Booklets, je vier Filme und Flash-Animationen, je zwei Musik- und Hörstücke, zwei Bücher, zwei Spiele, ein Puzzle, ein Menüprojekt und eine Stinkbombe"
Preisverleihung
Die Preisverleihung fand am 23. Juni 2007 im Rahmen der Festveranstaltung der Jungen Akademie in Berlin statt. Die Festansprache hielt der Neurowissenschaftler (und Präsident der deutschen Studienstiftung) Gerhard Roth, der die Preisfrage mit einer Gegenfrage beantwortete: "Haben wir die Wahl?". Anschließend meldete sich der Jury-Vorsitzende Christian Fleischhack aus dem Wahlstudio mit Wahlanalysen und Korrespondentenberichten aus Schöneberg und Australien. Dann gab er die Wahlsieger bekannt.
Das Preisgeld wurde gestiftet von der Commerzbank-Stiftung.
Rede zur Bekanntgabe der Preisträger von Christian Fleischhack
Nehmen Sie die Wahl an! Eine basisdemokratische Leseperformance
Im September 2007 luden die Junge Akademie und der Berliner Wissenschafts-Verlag die Teilnehmer an der Preisfrage 2006 und alle interessierten Gäste ein, im (West-)Berliner Rathaus Schöneberg das Thema Wahl noch weiter zu verfolgen. Wahlhelfer waren die Berliner Künstler Gößwein & Matz gemeinsam mit den Mitgliedern der Jury und den Preisträgern. Nach dem amtlichen Endergebnis luden sie alle Gäste zur Wahlparty.
Preisträger
1. Preis
„Brief eines Nordkoreaners“ – von Dong-Seon Chang, Tübingen
Dong-Seon Chang, geb. 1980 in Heidelberg, studiert an der Universität Konstanz Neurobiologie und schreibt zur Zeit seine Diplomarbeit am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen. Er besitzt einen koreanischen Pass.
Laudatio der Jury: "Der Beitrag 'Brief eines Nordkoreaners' von Dong-Seon Chang schildert die zugleich beklemmende wie befreiende Geschichte eines Mannes, der nach abenteuerlicher Flucht aus Nordkorea in Deutschland eine neue Heimat gefunden hat. Tief in seinem Innersten jedoch konnte er keine Ruhe finden; der neue Alltag, die neue Kultur sind ihm aus ihm selbst unerklärlichen Gründen über Jahre hinweg fremd geblieben. Ein Wort erst vermochte den gordischen Knoten zu lösen: 'wählen'. Dies mag uns unverständlich sein, aber sein Argument ist verstörend einfach: Im Koreanischen gibt für 'wählen' kein Wort. Wie kann man dann überhaupt eine Wahl haben oder gar eine Vorstellung hiervon entwickeln? Von diesem Konflikt ausgehend, erzählt der Brief in eindringlicher Weise, wie Menschen aus dem asiatischen Kulturkreis zunächst mit der Wahlfreiheit, die westliche Kulturen im alltäglichen und politischen Leben wie selbstverständlich zu bieten scheinen, überfordert sind. Entscheidend ist aus Sicht des Briefschreibers, daß persönliches Glück und ein erfülltes Leben jedoch gar nicht von wirklicher Wahlfreiheit abhängen. Er identifiziert letztlich den Glauben der westlichen Welt, eine Wahl zu haben, als Befreiung – unabhängig davon, ob es einen freien Willen oder eine freie Wahl gibt.
Der faszinierende Brief von Dong-Seon Chang ist ein herausragender Beitrag zum gegenseitigen Verständnis verschiedener Kulturkreise und erhält von der Jury den ersten Preis."
2. Preis
„Du hast die Wahl?“ – Bild-Text-Collage von Jürgen Nielsen-Sikora, Köln
Dr. Jürgen Nielsen-Sikora, geb. 1973, lebt in Köln. Er studierte Philosophie, Geschichte, Pädagogik und Psychologie und ist derzeit akademischer Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität zu Köln.
Laudatio der Jury: "Die Bild-Text-Collage 'Du hast die Wahl!' von Dr. Jürgen Nielsen-Sikora ist ein äußerst vielschichtiger Ansatz zur Beantwortung der Preisfrage 2006. Auf den ersten Blick nimmt der Betrachter den Schattenriß einer Person wahr, die unter dem Arm ein großformatiges Magazin mit dem Titel 'Choices' trägt. Vom Bild eingefangen, erschließt sich ein Text, der im ersten Moment an einen Schüttelreim erinnert, sich aber mehr und mehr als durchdachtes Wortspiel entpuppt und die typischen Stilelemente des Rap zeigt: ironische Übertreibungen, Sprachspiele und Slangfragmente. Auf diese Weise schafft es der Verfasser in genial einfacher Form, wesentliche Elemente unseres Lebens an die Frage 'Wer hat die Wahl?' zu knüpfen. Er verbindet beispielsweise in einem Atemzug die Qual unserer täglichen Zahnpastawahl 'Abends Elmex, morgens Aronal' mit der Wahl der Religion 'Zwischen Stoßgebet und Gratial, Rosenkranz und Inschallah'. Ohne aufdringlich zu sein oder Vorgaben zu machen, lädt der Text dazu ein, eine Positionsbestimmung unseres eigenen Lebens durchzuführen. Die Jury fragt sich: 'Is this real?!' und hat keine andere Wahl, als den überaus gelungenen und wortwitzigen Beitrag von Jürgen Nielsen-Sikora mit dem zweiten Preis zu prämieren."
3. Preis
„Herr Schiller hat gewählt ... “ – Kurzdokumentarfilm von Kirstin Büttner und Linda Matern, Hamburg
Kirstin Büttner, geb. 1973 in Reutlingen, studierte Geschichtswissenschaften und Lateinamerikanistik. Seit Abschluss ihres Studiums arbeitete sie an
mehreren Dokumentarfilmprojekten mit (u. a. "Im Namen des Irrtums",
NDR 2003).
Linda Matern, geb. 1966 in Kirgisien, hat Slawistik studiert und ist als Produzentin im Filmbereich tätig. Seit 1992 Produktion diverser Dokumentar- und Spielfilme.
Laudatio der Jury: "In dem Kurzdokumentarfilm 'Herr Schiller hat gewählt…' zeigen Kirstin Büttner und Linda Matern jemanden, der eine Wahl getroffen hat: den ostdeutschen Herrn Schiller, einen gelernten Klempner, der nach der Wende auf eigene Faust eine Mühle renoviert und dort versucht, ein autarkes Leben zu führen. In einem nur viereinhalb Minuten dauernden Interview und mit wenigen, prägnanten Einstellungen erfahren wir von der Lebensgeschichte, von den alltäglichen Schwierigkeiten und von dem Glück eines Menschen, der trotz der beschränkten Möglichkeiten, die ihm seine Herkunft und Umwelt lassen, einen ganz eigenen Weg sucht und findet. Dieser Herr Schiller ist kein Intellektueller und kein frustrierter Manager, der 'aussteigt' oder 'zurück zur Natur' strebt. Vielmehr bekommen wir hier einen Menschen gezeigt, der sein Glück in der Bewältigung einer selbstgesetzten Aufgabe sucht und dabei ebenso authentisch wie lebensnah über seine eigenen Grenzen, die letztlich aber die der condition humaine sind, reflektiert. Anhand dieses Einzelschicksals bringen uns die Preisträgerinnen völlig unaufdringlich, aber um so nachdrücklicher dazu, über die inneren und äußeren Zwänge, aber auch über die Freiräume und Möglichkeiten nachzudenken, die wir alle bei der Wahl unseres eigenen Lebens haben."