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Preisfrage 2001
Was ist es, das in uns schmerzt?
Das Tor zur Hölle steht in Paris, im Garten eines Palais am Invalidendom. Der Junge fragt den alten Mann: "Was ist denn das für eine komische Gestalt, die da oben mittendrin sitzt?" Der alte Mann zeigt dem Jungen im Garten den vergrößerten Abguß des Denkers von Auguste Rodin: "Hier siehst du ihn genauer." Der Junge schaut sich die Skulptur an. Er wundert sich: "Der sitzt so gespannt da. Was hat er?" "Nun," sagt der alte Mann zu dem Jungen, "die Meinungen gehen auseinander. Die einen sagen, der Denker sei traurig, ein Melancholiker. Die anderen vermuten, er blicke in sich hinein, denke an das Schicksal der Welt. Noch andere verbinden die beiden Meinungen und sagen, er leide an Weltschmerz." Der Junge setzt sich auf seinen Rucksack und versucht die Haltung des Denkers einzunehmen. "Vielleicht tut ihm aber nur der Rücken weh." "Vielleicht", sagt der alte Mann, "ja, vielleicht hat der Denker Rückenschmerzen, doch", fügt er hinzu, "die Frage ist nicht, ob der Denker Weltschmerz oder Rückenschmerz hat. Die Frage ist: Was ist es, das in uns schmerzt?"
Einsendungen
Bis zum Einsendschluss am 31.12.2001 wurden 472 Antworten auf die Preisfrage 2001 gegeben. Bei der überwältigenden Mehrheit handelte es sich um Textbeiträge: fast 300 Essays, Abhandlungen, Erzählungen, Gedichte, dazu sieben Theaterstücke und ein Hörspiel. Außerdem wurden rund 80 Bilder (Gemälde, Fotografien, Collagen) eingesandt, über 20 Medienkunstwerke (Videos, Websites, Präsentationen u.a.) und ebenso viele Skulpturen und Plastiken, 15 Multiples sowie sechs (Raum-)Installationen, d.h. entsprechende Konzeptionen und Skizzen. Darüber hinaus gab es schließlich auch einige Hörstücke und Kompositionen, darunter die handschriftlichen Partituren von Sechs Sätzen für Kleines Orchester und eines Monodrams für Mezzosopran, Chor und Instrumentalensemble.
Rund 100 Antworten kamen aus Berlin, rund 40 aus den übrigen östlichen Bundesländern. Von den westlichen Bundesländern liegen Nordrhein-Westfalen, Baden Württemberg und Bayern mit jeweils 70 bis 50 Antworten an der Spitze. Mit Ausnahme des Saarlandes haben alle Bundesländer mindestens einen Beitrag geleistet. 42 Einsendungen erreichten uns aus dem (europäischen) Ausland, die meisten davon aus Österreich, eine aus der Ukraine.
Unter den Antwortenden befanden sich Männer und Frauen in etwa gleich großer Zahl. Auch Kinder gaben Antworten auf die Preisfrage, so etwa die Ethik-Gruppe der sechsten Klasse des Staatlichen Ruprecht-Gymnasiums in München und 16 Schülerinnen und Schüler der Mönchberg-Volksschule aus Würzburg, die gemeinsam ein Theaterstück aufgeführt hatten und die fotografische Dokumentation dieser Aufführung bei uns einreichten. Der älteste Teilnehmer an der Preisfrage 2001, soweit das Alter der Einsender uns bekannt ist, ist der fünfundsiebzigjährige Dichter Johannes Oldenettel aus Vechelde in Niedersachsen, die jüngste Teilnehmerin die neunjährige Lea Zey aus Berlin.
77 der 472 Einsendungen haben wenigstens ein Mitglied der siebenköpfigen Jury zu einem positivem Votum veranlasst. Daraus wurden 25 Arbeiten für eine Publikation ausgewählt, die möglichst noch in diesem Jahr erscheinen soll.
Preisverleihung
Die für das Buch oder den Katalog ausgewählten Einsendungen, einschließlich der drei prämierten Werke, sowie einige andere Arbeiten wurden der Öffentlichkeit im Rahmen des Festveranstaltung der Jungen Akademie am 29. Juni 2002 in Berlin in einer Ausstellung gezeigt. Dabei fand auch die Preisverleihung statt.
Das Preisgeld - 5.000 Euro für den Sieger, 2.500 Euro für den 2. und 1.500 Euro für den 3. Preis - wurde gestiftet von der Commerzbank-Stiftung.
Rede zur Bekanntgabe der Preisträger von Rainer Maria Kiesow
Preisträger
1. Preis
„Kleines ABC des Schmerzes“ – Video-Essay von Annette Jael Lehmann, Berlin
Annette Jael Lehmann, Dr. phil., geboren 1965 in Berlin, Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Philosophie, Amerikanistik und Kunstgeschichte in Berlin, Oxford und Berkeley. 1996 Promotion bei Eberhard Lämmert. Zwischen 1995 und 1998 Forschungs- und Lehrtätigkeit in den USA. Seit 1999 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin. Habilitationsprojekt zu Diskursen und Praktiken der Visualität in den USA des 19. Jahrhunderts.
Aus der Laudatio der Jury: „Die Welt der Schmerzen ist unbeschreiblich vielfältig. Den Fragmenten dieser Schmerzenswelt entspricht in bestechender Weise die radikal fragmentarische Beschreibensform der alphabetischen Enzyklopädie. Das kleine ABC des Schmerzes eröffnet ein gelehrtes, populäres und geheimnisvolles Panorama der schmerzlichen Brechungen einer in Stücke zerfallenen Welt. Dem Zuschauer vergeht Hören und Sehen. Doch in den Zwischenräumen, in den Ritzen des Alphabets, kann er lachen. Zum Schmerz gesellt sich die Ironie.“
2. Preis
„Der Monsunist oder die Macht der zweiten Frage“ – Erzählung von Sibylle Summerer, Konstanz
Sibylle Summerer, geboren 1967 in Nürtingen, aufgewachsen in Kenia, Curaçao und im Westerwald. Nach verschiedenen Praktika, unter anderem in Mexiko, Fachhochschulstudium in Würzburg und Santiago de Chile. Seit 1999 Kommunikationsdesignerin in Kreuzlingen, Schweiz.
Aus der Laudatio der Jury:
„Kinderaugen – Taubenfüßchen – Straßenbahnen
Präzisionsarbeit
Satte Fraglosigkeit – schwammige Geographie der Kindheit
Schlitzaugen – der Geschmack des Fremden – Fleisch
Ziel meiner Träume
Feentränen – große Tropfen
Kambodscha
Leere Blicke
Malen nach Zahlen – mein Haus
Regen – endlich
Monsun“
3. Preis
„Der Schmerz in Nummerneun“ – Erzählung von Hansrainer Bosbach, Ramsen
Hansrainer Bosbach, Dr. rer. soc., Diplom-Psychologe, geb. 1945, verheiratet, zwei Töchter, ein Sohn. Studium der Psychologie, Biologie und Philosophie in Tübingen. Nach fünfjähriger Beschäftigung bei Funk-kollegs Akademischer Oberrat an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, anschließend Leiter eines AOK-Bildungszentrums in Eisenberg. Seit 1990 selbständig, macht Fortbildungen, gibt Seminare für Führungskräfte in Verwaltungen, Stadtsparkassen u.ä.
Aus der Laudatio der Jury: „Die Geschichte erzählt eine Gesellschaftsutopie des ewigen Lebens, das jedoch keines ist ... Nicht das Leben, sondern die Verpflichtung zur Leistung ist ewig geworden. Mit dieser Fiktion wendet sich der Autor zentralen Fragen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft zu und scheut auch keine interdisziplinären Dialoge, von der Kunst zur Hirnforschung über die Literatur bis zur Psychologie. Vorgestellt wird eine neue, ins Extreme getragene Variante der thematischen Verbindung von Schmerz und Vergänglichkeit.“