Zwischenruf des Vorstands

Die folgende Rede hat die damalige Vorstandssprecherin der Jungen Akademie, Margit Knoblauch, auch im Namen ihrer Vorstandskollegen Rainer Maria Kiesow und Jens Beckert am 30. Juni 2000 anlässlich der Gründung der Jungen Akademie vorgetragen.

Diese und die anderen Reden zu diesem Anlass sind im Jahrbuch der BBAW 2000 dokumentiert. Das Jahrbuch kann bei der BBAW heruntergeladen oder als Sonderdruck über die Geschäftsstelle der Jungen Akademie bezogen werden.

Margit Knoblauch, damalige Vorstandssprecherin

Liebe Akademiemitglieder, sehr geehrte Gründungsväter, meine Damen und Herren!

Wir möchten uns Ihnen bei der heutigen Festveranstaltung gerne kurz vorstellen – die 20 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die im deutschen Bildungssystem noch als Junge gelten, und denen die Ehre zu Teil wird, als erste Mitglieder in die Junge Akademie berufen worden zu sein. Wir sind zwischen 32 und 37 Jahre jung und damit eigentlich bereits mittelalt – wie uns eine Kollegin – eine Psychologin wohlgemerkt – bei unserem ersten Treffen ungeschönt mitteilte.

Wir sind also keine wirklich Jungen mehr, gehören aber auch noch nicht richtig zu den "Alten", den Etablierten, wie uns in bitterer Erkenntnis beim Ringen um Drittmittel und Dauerstellen täglich klar gemacht wird. Somit handelt es sich bei uns wohl um die alten Jungen – oder die jungen Alten. Wir sind auf alle Fälle "die dazwischen" – und das eben nicht nur was das Alter angeht. Die Junge Akademie wird sich auch in ihrer Arbeit vor allem in den Zwischenräumen bewegen, nämlich zwischen den disziplinären Bauten der Wissenschaft. Die Voraussetzungen für das Wirken in diesem Zwischenreich (obwohl es in seiner Beschaffenheit zuweilen eher dem Zwischenstockwerk in John Malkovichs "Being John Malkovich" vergleichbar scheint) sind für uns nicht schlecht: Mediziner, Biologen, Physiker, Mathematiker, Soziologen, Philosophen, Juristen, eben Geistes- und Sozial- und Naturwissenschaftler kommen in der Jungen Akademie zusammen, um jenseits der Mauern der universitären Disziplinen – eben dazwischen – zu denken, zu sprechen, zu arbeiten und forschend auf Entdeckungsreise zu gehen.

Und die Alten (Männer) haben bei der Zusammenstellung der Gruppe auch in anderer Hinsicht eine glückliche Hand bewiesen: Zwölf Männer und acht Frauen sind wir: wenigstens hier einmal nicht nur Männer unter sich. Für das erste konstituierende Treffen der Jungen Akademie wurden wir in das wunderbare Tagungsschlösschen der BBAW im brandenburgischen Blankensee bei Berlin eingeladen und dort recht bald mit einem freundlichen "nun machen SIE mal" von den "Alten" uns selbst überlassen. In einer Art Münchhausenakt haben wir es geschafft, innerhalb von zwei halben Tagen dem kreativen Chaos von Meinungen und Ideen eine erste Struktur zu geben und ein erstes Arbeitsprogramm zu beschließen.

Dieser intensiven Erfahrung mit dem Prozess der Selbstorganisation ist sicherlich auch zuzuschreiben, dass das Thema "Selbstorganisation" gleich zu den vier ersten vorläufigen Schwerpunktthemen unserer Akademiearbeit gehört. Wird "Selbstorganisation" doch sehr treffend definiert als "die lokale Interaktion von Elementen, aus der mit der Zeit weiterreichende Zusammenhänge, also Strukturen großer Dimension entstehen". Lasst Zwischenreiche blühen! Ebenso wie bei der Bearbeitung des zweiten Schwerpunktthemas "Repräsentation", welches sich mit Darstellungsformen der Wirklichkeit befasst, stellte sich in den Arbeitsgruppen rasch heraus, dass zunächst eine Bestandsaufnahme des Verständnisses und der Verwendung der beiden Begriffe "Selbstorganisation" und Repräsentation" in den unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen notwendig sein würde. Darauf aufbauend sollen durch die exemplarische Analyse ausgewählter Systeme Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Anwendung der beiden Prozesse in den einzelnen Disziplinen festgestellt werden. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen könnten letztendlich zur Übernahme erfolgreicher Modelle zwischen den Disziplinen befähigen. Beispiele hierfür wären z.B. die Anwendung der Selbstorganisation biologischer Systeme für soziale Strukturen oder die Übernahme von Denkmodellen der Neurobiologie in die Philosophie des Geistes, aber auch vice versa die Präfiguration naturwissenschaftlicher Modelle durch geistes- und sozialwissenschaftliche Annahmen.

Einen zweiten Themenkomplex bilden die Arbeitsgruppen "Wissenschaftspolitik" und "Wissenschaft und sozialer Kontext". Bei der Auswahl dieser Themen stand der Wunsch der Mitglieder der Jungen Akademie im Vordergrund, sich aktiv in die aktuellen wissenschaftspolitischen Diskussionen einzubringen. Aus den noch frischen, persönlichen Erfahrungen heraus wollen wir Missstände im derzeitigen Wissenschaftssystem, insbesondere für Nachwuchswissenschaftler, aufzeigen und im internationalen Rahmen analysieren. In der Diskussion ist bereits der Entwurf eines EU-Projektes der Jungen Akademie mit dem Titel: "Junge Wissenschaftler in Europa", das eine Bestandsaufnahme zur Situation von Nachwuchswissenschaftlern in der EU durchführen soll – mit dem Ziel des Entwurfes eines Kriterienkataloges zur EU-weiten Verbesserung der derzeitigen Situation. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auf die geeignete Förderung weiblicher Nachwuchswissenschaftler für Führungspositionen gelegt werden, mit der Zielsetzung von "total equality" auch in den Wissenschaften. Der Präsident der französischen Akademie der Wissenschaften Guy Ourisson hat in seiner Grußadresse an die Junge Akademie bereits den europäischen Horizont aufgezeigt und ein Treffen mit den vergleichbaren britischen und französischen Institutionen im nächsten Jahr auf den Plan gebracht.

Die Untersuchung der Interaktion zwischen Wissenschaft und Gesellschaft bildet den vierten Schwerpunkt unserer derzeitigen Arbeitsprojekte. Neben der Beleuchtung historischer Grundlagen des Wissenschaftsbildes und der Schwerpunkte wissenschaftlicher Forschung in unserer Gesellschaft stehen insbesondere Fragen der Gegenwart und Zukunft im Mittelpunkt dieser Arbeitsgruppe. Die derzeitige Umstrukturierung unserer Gesellschaft zu einer Informationsgesellschaft wirft Fragen nach dem zukünftigen Umgang mit und der Darstellung von Wissen auf – insbesondere auch in den Wissenschaften. Über die Konsequenzen von "Reizüberflutung" und einer "Inflation der Repräsentation" soll dabei ebenso nachgedacht werden wie über die Auswirkungen der zu beobachtenden Verdrängung der Schrift durch Bilddarstellungen im Internet und in anderen neuen Medien. Ein weiteres brennendes Thema ist die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Risiken der Gentechnik und die damit verbundenen Veränderungen der Wahrnehmung des Menschen seiner selbst und seiner Mitmenschen. Hinzu kommen Fragen nach den Konsequenzen einer zunehmenden Kommerzialisierung wissenschaftlicher – insbesondere naturwissenschaftlicher – Forschung, die auch durch die Drittmittel gebenden Institutionen in Deutschland in einer zumindest hinterfragungswürdigen Art und Weise forciert wird.

In diesen Fragen empfinden wir als Junge Akademie es als unsere direkte Verantwortung und als eine Chance, Stellung zu nehmen und uns aktiv in die Diskussion und Ausgestaltung dieser wesentlichen gesellschaftlichen Veränderungen einzubringen, zumal wir und unsere Kinder in den nächsten Jahrzehnten direkt von den Auswirkungen dieser Entwicklungen betroffen sein werden. Vor dem Hintergrund einer sich gerade in einem rasanten Wandel befindenden Gesellschaft kam unter den Mitgliedern die Frage nach möglichen Zukunftsvisionen für unsere Gesellschaft und für die Rolle der Wissenschaft in dieser Gesellschaft auf.

Manche Modelle sagen die Entwicklung hin zu einer "Spaßgesellschaft" voraus, in welcher der Einzelne als "homo ludens" an einem möglichst großen Lustgewinn interessiert ist und sich nur noch von einem Kick zum nächsten begibt – so zu sagen vom Bungee Jumping zum Free Climbing, von Big Brother zur Sportschau. Und die Rolle der Wissenschaft mag sich in einer derartigen Gesellschaft auf die einer Gesundheits- und Lebensqualität-erhaltenden Institution reduzieren. Ein anderes Zukunftsmodell wurde unlängst von Bill Joy sehr eindrucksvoll in der FAZ gezeichnet. Er beschreibt eine sich in einer Art evolutionärem Prozess selbst ausmerzende Menschheit, eine Gesellschaft, in welcher der Mensch durch die von ihm selber geschaffene Technik aufgrund seiner eigenen Unzulänglichkeit schlussendlich nicht mehr gebraucht, ja möglicherweise sogar ein Hindernis weiteren Fortschritts darstellen wird.

Nun, die Wahrheit liegt hoffentlich – wie zumeist – zwischen diesen Extremen. Nichtsdestoweniger sind für beide Entwicklungen Anzeichen in unserer jetzigen Gesellschaft zu erkennen und die Reflexion der grundlegenden Fragen – wohin geht es, und soll es dahin gehen? – erfordert die Zusammenarbeit und schließlich auch den breiten Konsens aller Kräfte in einer Gesellschaft. Aufgrund ihrer Zusammensetzung bietet die Junge Akademie ein bestens geeignetes Forum, derartige wissenschafts- und gesellschaftspolitische Fragen über die einzelnen Fachbereiche hinaus, zwischen den Disziplinen zu diskutieren und zu bearbeiten. Die Basisarbeit wird dabei in Arbeitsgruppen geleistet unter Einbeziehung auswärtiger und internationaler Expertise, die wir uns im Rahmen von Konferenzen, Workshops und Vorlesungen einholen werden.

Vielleicht gelingt es uns ja, die Zwangsjacke der Disziplin abzulegen und die Junge Akademie tatsächlich im "Dazwischen" anzusiedeln. Hierfür wird es erforderlich sein, die Grenzen zu überschreiten, transgressiv zu sein. Diese Transdisziplinarität, dieses Überschreiten der professionellen Denkblockaden, ist ein risikoreiches Unterfangen. Leicht sitzt man plötzlich zwischen den Stühlen (der Fächer) und fällt herunter. Die Junge Akademie wird niemanden auffangen können – Stellen gibt es nicht und soll es auch keine geben. Aber die Junge Akademie ist eben in gewisser Weise ein Abenteuer. Der Geist, der in ihr herrschen soll ist ein Geist des Aufbruchs, der immer ein Risiko bedeutet. Ein Risiko, das der verbeamteten deutschen Wissenschaft allzu häufig abhanden gekommen ist. Man wird sehen, ob uns noch etwas anderes einfällt, als den tausendsten Sammelband zu irgendeinem interdisziplinären Thema zu fabrizieren. Doch das Wagnis des Denkens und der Wissenschaft lassen wir uns nicht schon am Anfang vergällen – die Reise ins Zwischenreich wird letztlich im eigenen Kopf beginnen und enden. Doch wohin sollte sie auch sonst führen?

Aber natürlich ist Solipsismus nicht das Ziel der Jungen Akademie. Ein Anliegen, auf das wir bei unserer Arbeit als Junge Akademie ein besonderes Augenmerk legen werden, ist die Diskussion mit und die verständliche Darstellung von wissenschaftlichen Zusammenhängen für die Öffentlichkeit. Neben der Präsentation unserer Arbeiten im Internet ist auch die Durchführung von Informations- oder Diskussionsveranstaltungen zu spezifischen Themen besonderen öffentlichen Interesses geplant. Zielsetzung ist dabei nicht in erster Linie die Akzeptanz für bestimmte Bereiche, wie z.B. die Gentechnologie, zu erhöhen – obwohl eine verbesserte Kenntnis in diesem Fall zumeist diesen Effekt hat –, sondern der Öffentlichkeit eine inhaltlich-fundierte Auseinandersetzung mit einem speziellen Thema zu ermöglichen. Elfenbeinturm-Wissenschaft hat unserer Gesellschaft keinen guten Dienst erwiesen und zu einer fehlenden Akzeptanz und Begeisterung für wissenschaftliches Arbeiten in Deutschland geführt, eine Erfahrung, die viele von uns nach ihrer Rückkehr aus dem Ausland, insbesondere den USA, schmerzhaft empfinden.

Wir sehen die Junge Akademie als eine Herausforderung und Chance, unsere Begeisterung für Wissenschaft mit anderen zu teilen. Auf der Basis fachübergreifender Bearbeitung wissenschafts- und gesellschaftspolitischer Fragestellungen möchten wir in interessante Diskussionen mit Experten aus Wissenschaft und Politik sowie mit der Öffentlichkeit eintreten, und wir hoffen, dass sich möglichst viele aktiv daran beteiligen werden. Wir möchten uns einmischen. Die Feierlichkeiten des dreihundert Jahre alten akademischen Lebens in Berlin und Brandenburg haben uns heute nur die Zeit für einen Zwischenruf gelassen. In Zukunft werden Sie mehr von uns hören. Auch mehr Da-Zwischenrufe.

Ich danke Ihnen.