Es begann vor neun Jahren mit der Idee, Gesellschaft und Wissenschaft zusammenzuführen. Doch, was interessiert die Gesellschaft, die doch auf eine geheimnisvolle Weise mit dem Volk - oder der Bevölkerung - zu tun zu haben scheint, eigentlich, ja eigentlich, am meisten? „Wissenschaft“ dürfte als Antwort auf diese Frage kaum prämiert werden. Jedenfalls nicht die Wissenschaft - was auch immer die Wissenschaft repräsentieren mag. Und die klassischen Antworten „Gesundheit, Arbeit, Frieden, Liebe“ haben allenfalls vermittelt etwas mit Wissenschaft zu tun. Den ersten Preis als Antwort auf die Frage, was die Leute - um noch eine weitere Präzisierung des Begriffs „die Gesellschaft“ zu nennen - eigentlich interessiert, würde vermutlich eine Frage gewinnen: „Wie werde ich Millionär?“. Die Antwort auf diese Frage geben seit Jahrzehnten Millionen Menschen - weltweit können unter den Satten (die Hungrigen interessieren andere Fragen) sicher Milliarden vermutet werden, was den Begriff der Gesellschaft endgültig auf mondiale Dimensionen hebt. Die Antwort lautet: Lotto spielen! Doch Lotto ist Glückssache. Und Glück ist in einer Zeit, in der die Gesellschaft auf Wissen basiert - wobei hier offen bleiben mag, ob es sich dabei um eine deskriptive oder normative Aussage handelt -, ja Glück ist heute zu wenig. Neben das Glück tritt das Wissen. Dieses Wissen wurde in der Vergangenheit durch das Lösen von Kreuzworträtseln, das Spielen von Trivial Pursuit und das Schauen von Wim Thoelke massenhaft eingeübt. Viel zu gewinnen gab es dabei nicht. Weswegen diese Schnittstelle zwischen den Wissensschaffern und der Gesellschaft als Schnittstelle nicht besondere Aufmerksamkeit erregte.
Das hat sich seit einiger Zeit geändert. „Wer wird Millionär?“ ist nur eine von vielen, das Fernsehprogramm füllenden, Zuschauer anziehenden Win-shows. Wer dort ziemlich viel gewinnen möchte, muss ziemlich viel wissen. Zufälliger und bezeichnender Weise war es ein ordentlicher C-4-Professor für Geschichtswissenschaften, ein Spezialist für das mittelalterliche Mönchtum, den Sachsenspiegel und das Herforder Rechtsbuch, ein Mediävist also, der bei Günther Jauchs Show die erste Million einsackte. An der Schnittstelle lässt sich gut verdienen.
Die Junge Akademie hatte damals, 2001, dieses Phänomen, dass Wissen, Wissenschaft, Gesellschaft und Geld auf enge und durchaus populäre Weise verquickt sind, natürlich zur Kenntnis genommen. Aber was folgt aus dieser Beobachtung? Sollte die Junge Akademie auf der Jagd nach den Schnittstellen oder gar der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft danach trachten, bei Jauch zum Zug zu kommen, damit ihre Gesellschaftstauglichkeit demonstrieren und nebenbei eine Million verdienen? Nun, das schien aus verschiedenen Gründen wenig ratsam. Drittens, weil wir bis auf die Knochen seriös waren, zweitens, weil wir genügend Millionen bekommen hatten und erstens, weil wir die Gewinnchancen als sehr vage einschätzten.
Doch die Schnittstelle ließ uns nicht los. An ihr tätig zu werden ist schließlich eine der vornehmsten, im Gründungsstatut grundgesetzlich festgelegten Aufgaben der Jungen Akademie. Wofür die Schnittstelle allerdings erst einmal entdeckt werden musste.
Klar war nur eines: Wir wollten auf unserer Entdeckungsfahrt von den brennenden Fragen der Gegenwart ausgehen. Interrogativ gewendet: „Wer wird Millionär?“, affirmativ gewendet: „Der Preis ist heiß“. Zur Schärfung des Gegenwartsbewusstseins hilft mitunter ein Blick in die Geschichte. Und da hatten wir sie -unsere Schnittstelle: Die Preisfrage.
Akademische Preisfragen sind Kinder der Aufklärung. Keine Akademie, die etwas auf sich hielt, versäumte es im 18. Jahrhundert, einem gebildeten Publikum Fragen der Zeit zu stellen, um mit den Antworten dasselbe gebildete Publikum zu belehren und gelegentlich auch zu amüsieren. Akademien, Sozietäten, Gelehrte und Fruchtbringende Gesellschaften generierten im Europa der Lumières Tausende von Preisfragen.
Im 19. Jahrhundert beteiligten sich die organisierte öffentliche Meinung - Zeitungen - und die Industrie am Fragenstellen, das sich mehr und mehr wissenschaftlich gebärdete. Zur klassischen Frage „Was ist Aufklärung?“ gesellte sich am 1. Januar 1900 die Frage des Stahlkonzerns Krupp „Was lernen wir aus den Prinzipien der Descendenztheorie in Beziehung auf die innerpolitische Entwickelung und Gesetzgebung der Staaten?“ Interdisziplinaritiät und verbranntes Menschenfleisch lagen in den Antworten geborgen. Im 20. Jahrhundert ist das öffentliche akademische Fragenstellen mehr und mehr außer Mode geraten. Zuweilen fragt noch eine Zeitschrift, wie „Lettre“ vor Jahren nach Vergangenheit und Zukunft, oder die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, wenn sie sich in einer ihrer jährlichen Preisfragen Antworten auf das Blut in den Adern gerinnen lassende Fragen wie „Soll man Dichtung auswendig lernen?“ erhofft. Insgesamt aber scheint es so zu sein: Die wissenschaftlichen Akademien arbeiten, lange Zeit. Für Fragen haben sie keine Zeit.
Die Junge Akademie wollte nicht an eine Tradition anknüpfen. Dazu fühlte sie sich nicht berufen, und dafür fehlte ihr vor allem der Glaube daran, daß in den ganz modernen Zeiten noch durch Preisaufgaben die wissenschaftliche Erkenntnis gefördert werden könnte, so wie im 18. und 19. Jahrhundert, als gefragt wurde nach „dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“, nach „den Progressen der Metaphysik“, nach „der Veredelung der Sitten durch die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste“, nach „der allgemeinen Ursache der Winde", nach „dem Nutzen, das Volk zu täuschen“, nach „dem Ursprung der Sprache“, nach „den Vortheilen, Nachtheilen und dem Untergang des altgermanischen und namentlich altbairischen oeffentlich-mündlichen Gerichtsverfahrens“, nach „der besten Methode, verfaulte Geschwüre an den unteren Gliedmaßen zu heilen“ und nach „der Schädlichkeit der Schnürbrüste“.
Die Antworten auf solche - thematisch keineswegs insgesamt altmodischen - Fragen können zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr durch Preisfragen motiviert werden, sondern würden - im Zweifel projektmäßig - in wissenschaftlichen Instituten erarbeitet.
Preisfragen waren also außer Mode. Im Hinblick auf ihre wissenschaftsfördernde Funktion, aber auch was ihren aufklärerischen Impetus angeht.
In der Geschichte ist der Müllhaufen der Geschichte allerdings nur in den seltensten Fällen ein Endlager. Was einst en vogue war wird démodé, um später wieder als dernier cri zu gelten. Die Preisfrage - eine frische, moderne, phantasievolle, ja junge Initiative? 2001 ließ sich jedenfalls sagen: Preise sind „in“ und die alte Einsicht Joseph K.s, dass Fragen „die Hauptsache“ ist, hat nichts an Pertinenz eingebüßt.
Und vor allem: Die Junge Akademie war neugierig. Sie war neugierig, ob die Preisfrage als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft taugt. Ob der bis zum Abwinken beschworene, für die Junge Akademie obligatorische, Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft auf eine neue alte Weise anzufachen war. Ob das Licht noch einmal anging.
Heute, 2010, also nach neun Preisfragen und Tausenden Antworten in allen möglichen Formen der menschlichen Ausdruckskraft geht das Licht aus. Es hatte in der Preisfragenzeit durchaus geleuchtet, hell und weniger hell. Vielleicht zu Beginn, als mit Schmerz und Tier die Gesellschaft nicht nur in ihren akademischen Teilen angesprochen wurde, etwas heller - doch wer weiß schon, was in der Gesellschaft ankommt und was nicht? Das Problem der Preisfrage und des Wissenschaft-Gesellschaft-Diskurses stellt sich jedenfalls 2010 anders als 2001. Heute stellt sich der Gesellschaft mit dem inzwischen weitest verbreiteten Internet kein Hindernis mehr entgegen, um über jedes mit jedem zu kommunizieren. Wissenschaft und Gesellschaft brauchen keine Schnittstelle mehr, sind sie doch selbst, nachgerade total, zur Schnittstelle geworden. Im Chatroom, auf der Eigenhompage, beim Twittern, in der Welt von pad, phone, pod (von welchem Hersteller auch immer) kann eine Preisfrage, die antritt, Gesellschaft und Wissenschaft zum Dialog zu animieren, nur als gestrig wahrgenommen werden. In der Tat ging zuletzt die Zahl der Einsendungen zurück. Die Preisfrage war in alter Zeit und in jungakademischer Zeit ein Kommunikationsmedium gewesen. Es gab nicht viele andere, die Wissenschaft und Leute zusammenbrachten.
Jetzt ist eine neue Zeit angebrochen. Es kommt nicht mehr darauf an, die Möglichkeit zu schaffen, dass irgend jemand mit und zu der wissenschaftlichen Welt reden kann. Jeder kann das, was er sagen will, problemlos weltweit veröffentlichen. Heute kommt es vielmehr darauf an, in dem riesengrauen Meer der Kommunikationen, das herauszufiltern, was sich zu lesen, anzuschauen, zu konsumieren lohnt. Die Preisfrage der Jungen Akademie war der Aufruf an alle, sich zu melden. Dessen bedarf es nicht mehr. Es meldet sich ohnehin jeder, der will. Und er kann es nun. Und er oder sie treten im unendlichen Menschenplural auf. Die alte Frage der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft war einst eine der demokratischen Partizipation. Das hat sich erledigt. Und so erledigt sich die Preisfrage. Schade. Aber unausweichlich.